Sehr geehrte Damen und Herren,
das Jahr 2020 ist für uns als Gemeinde mit einem markanten Jahrestag verbunden: 75 Jahre Befreiung – 75 Jahre Wiedergründung unserer Gemeinde. Als Jahresmotto werden uns diese beiden Ereignisse durchs Jahr begleiten.
Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Doch sie trafen nur auf wenige Überlebende, oftmals dem Tode näher als dem Leben. Diejenigen, die durchgehalten hatten, waren schon vorher auf Todesmärsche geschickt worden. Und einige von ihnen sollten später zu den Mitgründern unserer Gemeinde gehören. Wo auch immer sie am Schluss befreit wurden, ob im KZ Wiesengrund bei Vaihingen/Enz, im KZ-Außenlager am Flughafen Echterdingen, in Hailfingen-Tailfingen, in Calw oder Spaichingen, in Erzingen, Schömberg, Bisingen, Frommern oder Schörzingen, in Kochendorf oder Neckargartach, im Engelbergtunnel bei Leonberg oder in Schwäbisch Hall-Hessental, in Ellwangen, in Wiesendorf oder Geislingen.
In Stuttgart endete der Zweite Weltkrieg mit der Befreiung durch französische Truppen am 22. April. Kurz danach rückten auch amerikanische Truppen ein. Bis zum 8./9. Mai hatten die Alliierten das faschistische Deutschland mit einem teils immensen Blutzoll endgültig niedergerungen. Darunter auch zahlreiche jüdische Soldaten, die ihr Leben auf dem Schlachtfeld gelassen hatten. Seit 2015 erinnert auf unserem Friedhof ein Mahnmal an die jüdischen Gefallenen und Opfer der Shoah.
Für die Überlebenden der Konzentrationslager war ihr Leidensweg vielfach auch nach ihrer Befreiung nicht zu Ende. Viel zu viele starben danach noch an den Folgen der menschenunwürdigen Bedingungen der nationalsozialistischen Konzentrationslager – oder nahmen sich traumatisiert das Leben.
DP-Lager versprachen ihnen eine erste Anlaufstelle zu werden, so in der Stuttgarter Reinsburgstraße und in Stuttgart-Degerloch, in Dornstadt, Heidenheim, Backnang, Kißlegg, Schwäbisch Hall, Waiblingen, Wasseralfingen und Ulm.
40 Tage nach der Befreiung Stuttgarts hatte sich unter der Fürsorge des amerikanischen Militärrabbiners Herbert S. Eskin wieder eine kleine Gemeinde gebildet. Am 41. Tag nach der Befreiung Stuttgarts, nur 25 Tage nach der Kapitulation von Nazi-Deutschland, fand in der Reinsburgstraße 26 wieder der erste öffentliche jüdische G‘‘ttesdienst statt. In Räumen, die noch bis 1951 als Synagoge genutzt werden sollten.
Am 9. Juni 1945 wurde schließlich die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs – damals noch Israelitische Kultusvereinigung Württembergs (IKVW) – mit Sitz in Stuttgart gegründet.
So mischt sich in die Freude über den 75. Jahrestag der Befreiung und den 75. Jahrestag der Wiedergründung unserer Gemeinde zugleich die Erinnerung an all das Leid, das dem vorausgegangen war.
Lassen Sie uns das Jubiläumsjahr 2020 daher einfühlsam und als ein Jahr der Besinnung begehen.
DER VORSTAND
Prof. Barbara Traub Susanne Jakubowski Michael Kashi
Vorstandssprecherin
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